AMB 2012, 46, 52b

Zum Blutungsrisiko unter Azetylsalizylsäure

Azetylsalizylsäure (ASS) scheint zu einer Wunderpille geworden zu sein. Nicht nur für die Prophylaxe verschiedener kardiovaskulärer Ereignisse, sondern auch für das Kolonkarzinom (1, 2) und andere Malignome (3) wurde die prophylaktische Wirksamkeit bei Dauereinnahme in niedriger Dosis beschrieben. Dabei wird manchmal nicht bedacht, dass ASS nicht harmlos ist. Im Vergleich zu Plazebo ist sie mit einem zwar geringen, aber deutlich höheren Blutungsrisiko verbunden. Daher wird die Indikation im Bereich der Primärprävention kontrovers beurteilt (4, 5), auch in Leitlinien: Amerikanische Fachgesellschaften (American Diabetes Association, American Heart Association, American College of Cardiology) empfehlen eine Primärprävention mit niedrig dosierter ASS für Diabetiker mit erhöhtem kardiovaskulären Risiko (10-Jahres-Risiko vaskulärer Ereignisse > 10%) und ohne Blutungsrisiko (Blutungsanamnese, Ulkusanamnese, NSAID, orale Antikoagulation). Die (aktuelleren) Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie empfehlen hingegen auch für Diabetiker keine ASS-Primärprophylaxe.

Eine aktuell im JAMA publizierte italienische bevölkerungsbasierte Kohortenstudie nahm sich vor, das Blutungsrisiko unter niedrig dosierter Dauergabe von ASS bei Diabetikern und Nicht-Diabetikern zu untersuchen (6). Es wurden administrative Daten (Krankenhaus-Entlassungen, Verschreibungs-Datenbanken, Bürgerverzeichnisse von 12 lokalen Gesundheitsbehörden in Apulien) von Personen untersucht, die in sechs Jahren (2003-2008) erstmals niedrig dosiert ASS (≤ 300 mg/d) erhalten hatten. Aus einer ersten Kohorte von 241.844 Personen wurden mittels „1:1-Propensity-Score-Matching” 186.425 ausgewählt und mit einer gleichen Zahl von Personen ohne ASS-Einnahme verglichen. Eine mediane Nachbeobachtungszeit von 5,7 Jahren summierte sich zu 1,6 Millionen analysierten Personenjahren. Insgesamt wurden 6.907 Erstepisoden schwerer Blutungen (Hospitalisierung erforderlich) erfasst, davon 4.487 gastrointestinale und 2.464 intrakranielle Blutungen. Für Personen unter ASS lag die Gesamt-Blutungsrate bei 5,58/1000 Personenjahre (95%-Konfidenzintervall = CI: 5,39-5,77), für Personen ohne ASS-Einnahme bei 3,6/1000 Personenjahre (CI: 3,48-3,72). Die Raten von Gesamtblutungen sowie gastrointestinalen und intrakraniellen Blutungen unter ASS waren alle im selben Ausmaß erhöht (Inzidenzverhältnis 1,55; 1,55 bzw. 1,54).

Diabetiker hatten per se ein signifikant höheres Blutungsrisiko als Nicht-Diabetiker (Inzidenzverhältnis: 1,36). Trotz dieser höheren Blutungsrate steigerte ASS aber die Blutungsrate bei Diabetikern nicht zusätzlich: 5,35/1000 Personenjahre (CI: 4,97-5,76) ohne ASS-Einnahme vs. 5,83/1000 Personenjahre unter ASS (CI: 5,36-6,33). Der erwünschte Effekt von ASS scheint bei Diabetikern ebenfalls moderat zu sein. In einer älteren Metaanalyse derselben Autorengruppe ergab sich durch ASS in der Primärprävention bei Diabetikern nur eine nicht-signifikante Reduktion des kombinierten kardiovaskulären Endpunkts (relative Risikoreduktion 10%; absolute Risikoreduktion 1,2%; 8). Die Autoren interpretieren den Befund, dass bei Diabetikern sowohl die erwünschten als auch die unerwünschten ASS-Wirkungen schwächer sind, als Hinweis auf eine geringere Hemmung der Thrombozytenaggregation bei Diabetikern, möglicherweise die Folge eines höheren Thrombozytenumsatzes.

Als weitere Faktoren, die mit einem höheren Blutungsrisiko assoziiert waren, identifizierten die Autoren in der aktuellen Studie:

·         Hospitalisierung wegen kardiovaskulärer Probleme in der Vorgeschichte (Inzidenzverhältnis 1,29),

·         Hospitalisierung wegen gastrointestinaler Probleme in der Vorgeschichte (Inzidenzverhältnis 2,87),

·         Einnahme anderer Thrombozytenaggregationshemmer (Inzidenzverhältnis 1,42),

·         Einnahme oraler Antikoagulanzien (Inzidenzverhältnis 1,31),

·         Hypertonie (Inzidenzverhältnis 1,14),

·         männliches Geschlecht und Alter (Inzidenzverhältnis 1,69).

Hier zeigt sich das von anderen Gerinnungshemmern bekannte Problem der Überlappung kardiovaskulärer und blutungsrelevanter Risikofaktoren, d.h. je höher das kardiovaskuläre Risiko eines Patienten, desto höher ist auch sein Blutungsrisiko einzuschätzen – insbesondere in unselektierten Patientenpopulationen. Die Einnahme von Statinen oder Protonenpumpeninhibitoren war hingegen mit einem niedrigeren Blutungsrisiko assoziiert (Inzidenzverhältnis 0,67 bzw. 0,84).

Als weiteres Resultat der Studie stellte sich heraus, dass die Gesamtrate ASS-assoziierter Blutungen etwa fünfmal höher war, als aus Daten randomisierter Studien (vgl. 7) zu erwarten gewesen wäre. Auch das Blutungsrisiko ohne ASS-Einnahme war viel höher als zuvor angenommen. Die Autoren interpretieren dies als möglichen Hinweis darauf, dass in einer unselektierten „Real-World”-Population andere Grundvoraussetzungen und Risiken vorherrschen als in den hochselektierten Populationen randomisierter Studien. Gleichzeitig liegt in der bevölkerungbasierten Methodik der Studie aber auch eine Einschränkung, nämlich dass weitere mögliche Einflussgrößen auf die Blutungsraten nicht erfasst sind, z.B. Adipositas, Nikotin- und Alkoholabusus sowie Over-the-counter NSAID oder ASS. Es konnte auch nicht zwischen Primär- und Sekundärprävention unterschieden werden, da lediglich hospitalisierungspflichtige ASS-assoziierte Blutungen erfasst wurden. Auch muss bedacht werden, dass die Reduktion der Kohorte von 241.844 Personen auf 186.425 mittels „Propensity-Score-Matching” durchaus eine (andere) Art der Selektion ist und somit keineswegs von einer völlig „unselektierten” Population gesprochen werden kann.

Fazit: Eine große bevölkerungsbasierte Kohortenstudie zeigt, dass unter Dauereinnahme niedrig dosierter ASS ein wesentlich höheres gastrointestinales und intrakranielles Blutungsrisiko bestehen dürfte, als Daten aus randomisierten Studien ergeben haben. Damit wird die derzeitige Einschätzung der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie gestützt, dass das Risiko-Nutzen-Verhältnis gegen ASS in der Primärprävention kardiovaskulärer Ereignisse spricht. Ob Subgruppen ein günstigeres Nutzen-Risiko-Verhältnis haben, ist nicht klar. So hatten Diabetiker in dieser Studie per se ein erhöhtes Blutungsrisiko, das unter niedrig dosierter ASS nur sehr geringfügig weiter anstieg. Dagegen ist niedrig dosierte ASS ein Grundpfeiler der sekundären Prävention.

Literatur

  1. AMB 2011, 45, 92b. Link zur Quelle
  2. AMB 2010, 44, 94a. Link zur Quelle
  3. AMB 2012, 46, 36. Link zur Quelle
  4. AMB 2005, 39, 36. Link zur Quelle
  5. AMB 2001, 35, 22a. Link zur Quelle
  6. De Berardis,G., et al.: JAMA 2012, 307, 2286. Link zur Quelle
  7. Baigent, C., et al.(ATT = AntiThrombotic Trialists’ collaboration): Lancet 2009,373, 1849. Link zur Quelle
  8. De Berardis,G., et al.: BMJ 2009, 339, b4531. Link zur QuelleErratum: BMJ 2010, 340, c374.

Schlagworte zum Artikel:

Acetylsalicylsäure, Akutes Koronarsyndrom, Angina pectoris, Apoplektischer Insult, Arteriosklerose, Azetylsalizylsäure, Blutungen, Blutungsrisiko, Diabetes mellitus, Herzinfarkt, Hirninfarkt, Koronare Herzkrankheit, Myokardinfarkt, Schlaganfall,

 

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