AMB 2009, 43, 37

Neue Metaanalyse zur Letalität unter Erythropoese-stimulierenden Wirkstoffen bei Patienten mit Tumoranämie

Auf Metaanalysen zu Wirksamkeit und Risiken der rekombinanten humanen Erythropoese-stimulierenden Wirkstoffe (erythropoiesis-stimulating agents = ESA) zur Behandlung der Anämie bei Tumorpatienten sind wir in den letzten Jahren wiederholt eingegangen (1-3). Diese Metaanalysen basierten auf Auswertung der in der Fachliteratur publizierten klinischen Studien. Eine aktuelle, umfassende Metaanalyse hat demgegenüber individuelle Patientendaten von insgesamt 53 randomisierten kontrollierten Studien (RCT) mit 13 933 Patienten ausgewertet, von denen 7 634 (55%) mit ESA behandelt wurden und 6 299 (45%) im Kontroll-Arm waren (4). Diese Metaanalyse wurde unter Leitung deutscher Hämatologen und Biometriker sowie Schweizer Epidemiologen durchgeführt und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, der medizinischen Fakultät der Universität Köln und Oncosuisse finanziell unterstützt. Für diese Analyse haben auch pharmazeutische Hersteller von ESA (Johnson & Johnson, Hoffmann-La Roche, AMGEN) sowie die Leiter internationaler klinischer Studien Daten zur Verfügung gestellt. Eine Chemotherapie zur Behandlung der Tumorerkrankung (vorwiegend Mammakarzinom und gynäkologische Tumore sowie Bronchialkarzinom) erhielten die Patienten in 38 der 53 eingeschlossenen klinischen Studien (72%), eine Bestrahlung in drei (6%) und eine kombinierte Behandlung (Chemotherapie plus Bestrahlung) in fünf (9%) der berücksichtigten RCT. In weiteren fünf RCT (9%) wurden weder eine Chemo- noch eine Strahlentherapie verabreicht. Primäre Endpunkte der Metaanalyse waren Letalität während der aktiven Studienphase (Zeitraum von Randomisierung bis 28 Tage nach Beendigung der Studie) und Gesamtüberleben aller Patienten bzw. der Patienten unter Chemotherapie. Gleichzeitig wurde die Qualität der Studien (z.B. Verfahren der Randomisierung, Verblindung, langfristige Beobachtung, vorzeitiger Abbruch) bewertet. Die Gabe von ESA erhöhte die Letalität während der aktiven Studienphase (Hazard Ratio = HR: 1,17; 95%-Konfidenzintervall = CI: 1,06-1,30) und verschlechterte das Gesamtüberleben (HR: 1,06; CI: 1,00-1,12). Auch bei den 10 441 Patienten mit Chemotherapie erhöhte die Gabe von ESA die Letalität (HR: 1,10; CI: 0,98-1,24) und verschlechterte das Gesamtüberleben (HR: 1,04; CI: 0,97-1,11). Bemerkenswert waren die Defizite in der Qualität der RCT. So wurde nur in 16 der 53 Studien (30%) über die Art der Randomisierung adäquat berichtet. Das Überleben war primärer Endpunkt in nur fünf (9%) und sekundärer Endpunkt in 15 (28%) der RCT. Etwa ein Viertel der Studien wurde vorzeitig beendet. Obwohl die eingeschlossenen Studien klinisch sehr unterschiedliche Patientenkollektive und verschiedene ESA bzw. Applikationsintervalle der ESA umfassten, war die Heterogenität der Ergebnisse hinsichtlich der primären Endpunkte in den RCT sehr gering. Aussagen zu Auswirkungen eines On-label- bzw. Off-label-use der ESA auf die primären Endpunkte waren nicht möglich. Diese Metaanalyse konnte die in klinischen Studien früher geäußerte Vermutung nicht bestätigen, nämlich dass eine ungleiche Verteilung der initialen Patientenmerkmale zwischen experimentellem und Kontrollarm die erhöhte Letalität unter ESA erklären könnte. Erhöhte Letalität und Verschlechterung des Gesamtüberlebens unter bzw. nach Gabe von ESA waren in den RCT mit guter Qualität eher deutlicher, und es ergaben sich keine Hinweise auf eine ungleiche Verteilung der initialen Patientenmerkmale mit prognostischer Bedeutung. Darüber hinaus fand sich keine eindeutige Korrelation zwischen Behandlung mit ESA, Hämoglobin(Hb)-Wert bei Studienbeginn, Hb-Zielwert, geplanter Dosierung der ESA und Letalität. Auffällig war jedoch, dass Patienten mit niedrigen Hämatokrit-Werten (< 0,235) bei Studienbeginn, die mit ESA behandelt wurden, ein höheres Letalitätsrisiko hatten als andere Subgruppen. Die Autoren der Metaanalyse vermuten, dass niedrige Hämatokrit-Werte als Marker einer fortgeschrittenen Tumorerkrankung und erhöhter Anfälligkeit gegenüber den negativen Effekten der ESA gelten könnten.

Fazit: Eine Metaanalyse, die auf der Auswertung individueller Patientendaten in insgesamt 53 randomisierten kontrollierten Studien basiert, bestätigt die erhöhte Letalität und Verkürzung des Gesamtüberlebens bei Tumorpatienten unter bzw. nach Behandlung mit Erythropoese-stimulierenden Wirkstoffen (ESA). Die ausführlichen Hinweise zur Verordnung von ESA bei Tumorpatienten mit Chemotherapie-assoziierter Anämie, die wir zitiert haben (3), müssen deshalb ebenso wie die zugelassenen Anwendungsgebiete der ESA sorgfältig beachtet werden. Zukünftige Metaanalysen werden sich der Beeinflussung der Lebensqualität und der potenziellen Stimulation des Tumorwachstums durch ESA widmen.

Literatur

  1. AMB 2002, 36, 12. Link zur Quelle
  2. AMB 2005, 39, 13. Link zur Quelle
  3. AMB 2008, 42, 70b. Link zur Quelle
  4. Bohlius, J., et al.: Lancet 2009, 373, 1532. Link zur Quelle

 

Schlagworte zum Artikel:

Anämie, Bronchialkarzinom, Brustkrebs, Erythropoese-stimulierende Wirkstoffe, Erythropoietin, ESA, Karzinome, Mammakarzinom, Tumoranämie,

 

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