AMB 2012, 46, 79b

Leserbrief: Zusatznutzen von Ticagrelor (Brilique®)

Dr. S. aus B. schreibt: >> In seinem Leserbrief (1) setzt sich Dr. M. aus F. am Beispiel der Firma AstraZeneca und dem Wirkstoff Ticagrelor kritisch mit dem Thema „Advisory Boards” auseinander. Diese kritische Distanz ist grundsätzlich zu begrüßen. In diesem Beitrag (1) führt Dr. M. allerdings auch aus, dass er als Leiter eines Herzkatheter-Labors die Substanz Ticagrelor noch nie verordnet hat. Dazu das Folgende: Der G-BA hat für Ticagrelor (zusätzlich zu ASS eingenomm) einen Beleg für einen beträchtlichen Zusatznutzen für Patienten mit instabiler Angina pectoris (IA) sowie für Patienten mit Myokardinfarkt ohne ST-Streckenhebung (NSTEMI) festgestellt; diese Gruppe umfasst ca. 73% aller Patienten, für die Ticagrelor arzneimittelrechtlich zugelassen ist (2, 3).

Ein beträchtlicher Zusatznutzen liegt vor, wenn eine gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie (hier Clopidogrel plus ASS) bisher nicht erreichte deutliche Verbesserung des therapierelevanten Nutzens erreicht wird, insbesondere eine moderate Verlängerung der Lebensdauer und eine für die Patienten spürbare Linderung der Erkrankung (4). Der Beschluss (2) ist Teil der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL), die einschließlich ihrer Anlagen u.a. für Leistungserbringer sowie Krankenkassen verbindlich ist (5). Sie konkretisiert Inhalt und Umfang der im SGB V (6) festgelegten Leistungspflicht auf der Grundlage des Wirtschaftlichkeitsgebots unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse und des Prinzips einer humanen Krankenbehandlung.

Es ist also zu hinterfragen, ob aufgrund der Entscheidung des G-BA im Rahmen der frühen Nutzenbewertung die Behandlung mit Ticagrelor bei Patienten mit IA/NSTEMI den Versicherten geschuldet ist? Wenn ja, hat Dr. M. als Leiter eines Herzkatheter-Labors entweder keine Patienten mit diesen Indikationen oder er/sie behandelt die Patienten nicht unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse. <<

 

Literatur

  1. AMB2012, 46, 56. Link zur Quelle
  2. G-BA:http://www.g-ba.de/informationen/nutzenbewertung/18/#tab/beschluesse Link zur Quelle
  3. AMB2012, 46, 07. Link zur Quelle
  4. G-BA:http://www.g-ba.de/downloads/62-492-598/VerfO_2012-01-19.pdf Link zur Quelle
  5. G-BA:http://www.g-ba.de/informationen/richtlinien/3/ Link zur Quelle
  6. Fünftes Buch Sozialgesetzbuch -Gesetzliche Krankenversicherung

Antwort: >> Wir bedanken uns für Ihren interessanten und wichtigen Brief. Unser Leser kritisiert in dem von Ihnen kommentierten Brief (1) die „Advisory Boards”, zu denen einige pharmazeutische Hersteller bekannte Ärzte einer Region einladen. Bei diesen Gelegenheiten werden Pro und Kontra eines neuen Arzneimittels diskutiert und positive Einschätzungen der Anwesenden später oft als Werbetext versandt. Der Kritik unseres Lesers an diesem Verfahren schließen wir uns an. Er berichtet außerdem, Ticagrelor in seinem Herzkatheter-Labor noch nie angewandt zu haben. Auch das halten wir für ein mögliches therapeutisches Vorgehen. Der G-BA hat für Ticagrelor (zusätzlich zu ASS eingenommen) einen Beleg für einen beträchtlichen Zusatznutzen für Patienten mit instabiler Angina pectoris (IA) sowie für Patienten mit Myokardinfarkt ohne ST-Streckenhebung (NSTEMI) festgestellt (2). Diese Entscheidung stützt sich im Wesentlichen auf die Daten der PLATO-Studie (3). Die Vergleichstherapie zu Ticagrelor war in dieser Studie Clopidogrel (300-600 mg). Nach einer neueren Studie (4) ist die optimale Loading dose von Clopidogrel 600 mg. Diese höhere Clopidogrel-Dosis erhielten in der PLATO-Studie nur etwa 20% der Patienten. Ein direkter Vergleich von Ticagrelor mit 600 mg Clopidogrel liegt nicht vor. Diese Dosis ist zwar (zurzeit) „Off label”, aber bei erwiesener Überlegenheit und einer bedrohlichen Erkrankung möglich, wenn auch mit den entsprechenden Risiken. Vielleicht ist unser Leser auch vom Unterschied der Jahrestherapiekosten beeindruckt: Ticagrelor plus ASS 1092 €, Clopidogrel plus ASS 139 € (5).

Schließlich fragen Sie, ob sich aus der offiziellen Feststellung des beträchtlichen Zusatznutzens die Verpflichtung ergibt, solche Patienten mit Ticagrelor zu behandeln. Diese wichtige Frage wurde an den G-BA weitergeleitet. Er nimmt dazu folgendermaßen Stellung (5): „Die Nutzenbewertung von neuen Wirkstoffen gemäß § 35a SGB V bewertet den Zusatznutzen mit dem Ziel, Erstattungsvereinbarungen nach § 130b SGB V vorzubereiten. Der Beschluss über den Zusatznutzen des neuen Wirkstoffs ist Teil der AM-RL des G-BA und insofern in seinen Aussagen von den Leistungserbringern, Krankenkassen und Patienten zu beachten. Der Beschluss über den Zusatznutzen vergleicht im engeren Sinn Nutzen und Kosten des neuen Wirkstoffs primär mit dem Ziel, Grundlage für Erstattungsvereinbarungen oder Schiedsentscheidungen zu sein. Der Beschluss ersetzt weder in seinen Aussagen zur zweckmäßigen Vergleichstherapie noch zum relativen Zusatznutzen des neuen Wirkstoffs die ärztliche Indikationsstellung im Einzelfall. Die hierzu in der AM-RL getroffenen Feststellungen schränken den zur Erfüllung des ärztlichen Behandlungsauftrags erforderlichen Behandlungsspielraum nicht ein. Darüber hinaus stellt der Zusatznutzen-Beschluss des G-BA eine Momentaufnahme der Evidenz zum Zeitpunkt der Markteinführung dar. Die bisherigen Zusatznutzen-Beschlüsse erlauben nach unserer Auffassung mit der engeren Zielstellung des Vergleichs mit einer zweckmäßigen Vergleichstherapie keine Rückschlüsse auf den medizinischen Standard in einer Indikation. Der Beschluss ersetzt damit nicht die ständige Beachtung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse unter Berücksichtigung des medizinischen Fortschritts. Eine rechtlich abschließende, mit den Trägern abgestimmte Bewertung der verordnungssteuernden Wirkung der Beschlüsse des G-BA zum Zusatznutzen von neuen Wirkstoffen liegt zurzeit jedoch noch nicht vor”.

Das heißt: Es gibt für Ärzte keine prinzipielle Verpflichtung, mit den Arzneimitteln zu behandeln, denen der G-BA einen Zusatznutzen attestiert hat. <<

 

Literatur

  1. AMB2012, 46, 56. Link zur Quelle
  2. http://www.g-ba.de/downloads/…AM-RL-XII_Ticagrelor_ZD.pdf Link zur Quelle
  3. Wallentin, L., et al. (PLATO = PLATeletinhibition and patient Outcomes): N. Engl. J. Med.: 2009, 361, 1045. Link zur Quelle AMB 2010, 44,19. Link zur Quelle
  4. Mehta,S.R., et al. (CURRENT-OASIS 7 = Clopidogreland aspirin optimal dose Usage to Reduce Recurrent EveNTs-seventh Organisation to AssessStrategies in Ischemic Syndroms):Lancet 2010, 376, 1233. Link zur Quelle
  5. Bundesanzeiger 2011-12-Ticagrelor_BAnZ
  6. G-BA 25.9.2012, persönliche Mitteilung.

 

Schlagworte zum Artikel:

Akutes Koronarsyndrom, Angina pectoris, Arzneimittel, G-BA, Gemeinsamer Bundesausschuss, Herzinfarkt, Koronare Herzkrankheit, Medikamente, Myokardinfarkt, Ticagrelor,

 

Alle Artikel zum Schlagwort: Ticagrelor

Wirken Clopidogrel, Prasugrel und Ticagrelor stärker bei Rauchern? 2013, 47, 83

Leserbrief: Zusatznutzen von Ticagrelor (Brilique®) 2012, 46, 79b

Verordnungen und Preise einiger im AMB besprochener Arzneimittel, basierend auf dem Arzneiverordnungs-Report 2011, Datenbasis des Jahres 2010: GKV-Arzneimittelindex im WIdO. Preisstand 1. März 2012. 2012, 46, 24DB02

Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zur Bewertung neuer Arzneimittel 2012, 46, 07a

Nochmal: Monitoring der Thrombozytenhemmung nach akutem Koronarsyndrom? 2011, 45, 84

Ticagrelor – ein neuer Hemmer der Thrombozytenaggregation 2010, 44, 19

 

Verlässliche Daten zu Arzneimitteln

DER ARZNEIMITTELBRIEF informiert seit 1967 Ärzte, Medizinstudenten, Apotheker und Angehörige anderer Heilberufe über Nutzen und Risiken von Arzneimitteln.

DER ARZNEIMITTELBRIEF erscheint als unabhängige Zeitschrift ohne Werbeanzeigen der Pharmaindustrie. Er wird ausschließlich durch seine Leserinnen und Leser, d. h. durch die Abonnenten, finanziert. Wir bitten Sie deshalb um Verständnis, dass wir aktuelle Artikel nur auszugsweise veröffentlichen können.

GPSP_Banner_AMB_01_2013 2_Studi_Banner_AMB_NEU DER ARZNEIMITTELBRIEF als Mitglied im ISDB Sie können den ARZNEIMITTELBRIEF in 4 Preiskategorien abonnieren: