AMB 2012, 46, 57

Ischämischer Schlaganfall, Myokardinfarkt und venöse Thromboembolie unter hormonalen Kontrazeptiva

Zusammenfassung: Während unter Ethinylestradiol (EE)-haltigen oralen Kontrazeptiva (OK) mit den Gestagenen Desogestrel, Gestoden und Drospirenon das Risiko venöser Thromboembolien im Vergleich mit Levonorgestrel-haltigen OK höher zu sein scheint, ergab eine dänische nationale Register-Studie ein annähernd gleich gesteigertes Risiko um den Faktor 1,5-2 hinsichtlich ischämischer Schlaganfälle und Myokardinfarkte, unabhängig vom Gestagen in der „Pille”. Reine Gestagen-Kontrazeptiva sind nicht mit solch erhöhten Risiken assoziiert. Das absolute Risiko für Schlaganfälle, Myokardinfarkte und VTE ist bei Frauen über 40 Jahren generell deutlich höher als bei jüngeren Frauen und wird durch OK weiter gesteigert. Frauen über 40 Jahre und solche mit Hypertonie sollten deshalb keine EE-haltigen OK einnehmen.

Wir haben zuletzt vor drei Jahren über die Assoziation zwischen der Einnahme oraler Kontrazeptiva (OK) und der Inzidenz venöser Thromboembolien (VTE) berichtet (1). Dass venöse, aber auch arterielle thrombotische Ereignisse bei Frauen während der Einnahme von OK häufiger als spontan auftreten, ist bereits seit den 1960er Jahren bekannt. Damals enthielten die „Pillen” viel höhere Dosen Ethinylestradiol (EE) als heute. EE ist sicher die wichtigste prothrombotische Komponente der OK. Es fördert durch den Einfluss auf die Leber die plasmatische Gerinnung, aber auch die Fibrinolyse.

In den letzten 15 Jahren galt die Aufmerksamkeit vermehrt der Rolle der Gestagene in den OK. Sie modifizieren wahrscheinlich die prothrombotischen Effekte von EE. In unserem Artikel von 2009 (1) wurde auch eine umfangreiche „National cohort study” aus Kopenhagen, Dänemark, besprochen. Von 1995 bis 2005 wurden in dieser Studie durch Zusammenführung verschiedener nationaler Register VTE während etwa 10,4 Millionen „Frauenjahren” (FJ) erfasst, davon 3,3 Millionen FJ unter Einnahme von OK (2). Updates dieser Register wurden kürzlich im BMJ publiziert (3, 4). Die aktuellen Daten bezüglich Relativer Risiken (RR = 1,0 = Inzidenz ohne Einnahme von OK), adjustiert nach Alter, Kalenderjahr und Bildungsgrad, sind der Tab. 1 zu entnehmen.

Kürzlich erschien von derselben dänischen Arbeitsgruppe im N. Engl. J. Med. eine methodisch ähnliche Studie, in der die Inzidenz arterieller Ereignisse – ischämischer Schlaganfälle und Myokardinfarkte – bei Frauen mit und ohne Einnahme von OK unter Berücksichtigung der EE-Dosis und der verschiedenen Gestagene in den OK verglichen wurde (5). In dieser Studie wurden insgesamt etwas mehr als 14 Millionen Frauenjahre ausgewertet. Etwa 9 Millionen FJ entfielen auf Frauen, die keine OK eingenommen hatten, die anderen auf Frauen mit OK unterschiedlichen Gehalts an EE und mit verschiedenen Gestagenen oder auch Nur-Gestagen-OK. In der Zeit von 1995 bis 2009 ereigneten sich bei diesen Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren insgesamt 3311 ischämische Schlaganfälle (21,4/100.000 FJ) und 1725 Myokardinfarkte (10,1/100.000 FJ). Die Inzidenz beider Ereignisse stieg altersabhängig etwa um den Faktor 10 von der jüngsten (15-19 Jahre) bis zur ältesten (45-49 Jahre) Altersgruppe an. Dies muss bei der Gesamtbewertung unbedingt beachtet werden.

Die OK, die von den meisten Frauen eingenommen wurden, enthielten 30-40 µg EE/d. Über eine Million FJ entfielen aber auch auf Frauen, die OK mit nur 20 µg EE/d eingenommen hatten. Die wichtigsten Daten ergeben sich jedoch aus der Gruppe mit 30-40 µg EE/d. In einer großen Tabelle dieser neuen dänischen Veröffentlichung werden die Rohdaten zur Inzidenz der Ereignisse in Abhängigkeit von der EE-Dosis und vom Typ der Gestagene mitgeteilt. Für die Adjustierung nach Alter, Kalenderjahr, Bildungsgrad und Risikofaktoren werden nur die Relativen Risiken (RR) dargestellt. In unserer Tab. 1 geben wir daher nach den Inzidenzraten bei Frauen ohne OK nur diese RR wieder.

Schlaganfall: Bei Frauen ohne OK-Einnahme war die Inzidenz 24,2/100.000 FJ. Bei Frauen mit OK, die 30-40 µg EE/d enthielten, war das RR mit dem Gestagen Levonorgestrel (LNG) 1,65. LNG gilt bisher als das Gestagen mit dem geringsten prothrombotischen Effekt. Nur OK mit Norethisteron und Desogestrel sind mit einem etwas höheren RR assoziiert, während Norgestimat, Gestoden, Drospirenon und Cyproteronazetat etwa gleich mit LNG sind.

OK mit 20 µg EE/d plus Desogestrel oder Gestoden als Gestagen haben etwa das gleiche RR wie 30-40 µg EE/d plus LNG, während OK 20 µg EE/d plus Drospirenon mit einem geringeren RR für Schlaganfall assoziiert sind.

Alle OK, die nur Gestagene enthalten, sowie die mit LNG beschichtete Intrauterin-Schleife Mirena® sind im Vergleich mit Nicht-Anwenderinnen mit keinem erhöhten Schlaganfall-Risiko assoziiert. Das EE-haltige kontrazeptive Pflaster Evra® und der ebenfalls EE-haltige intravaginale Nuva®-Ring sind mit einem höheren Schlaganfall-Risiko als alle OK mit 30-40 µg EE/d assoziiert!

Myokardinfarkt: Bei Frauen ohne OK-Einnahme war die Inzidenz 13,2/100.000 FJ. Bei einem EE-Gehalt der OK von 30-40 µg/d plus LNG fand sich das RR auf 2,02 erhöht. Für alle anderen Gestagene in dieser Östrogengruppe bis auf Norethisteron (RR: 2,28) war das RR ähnlich wie für LNG oder niedriger. Ähnlich wie beim Schlaganfall war keines der reinen Gestagen-Kontrazeptiva mit einem erhöhten Myokardinfarkt-Risiko assoziiert. Für Evra® (kein Myokardinfarkt registriert) und den Nuva®-Ring (RR nicht signifikant erhöht) war die Zahl der Anwenderinnen gering.

Es ist auffällig, dass in den beiden dänischen Studien die Inzidenz ischämischer Schlaganfälle und VTE nur gering unterschiedlich ist (24,2 versus 37/100.000 FJ), während die Inzidenz von Myokardinfarkten in dieser Altersgruppe mit 13,2 versus 37/100.000 FJ deutlich geringer ist (3, 4, 5). In unserem Beitrag von 2009 haben wir bereits darauf aufmerksam gemacht, dass die berichteten oder angenommenen Inzidenzraten von VTE bei Frauen im OK-Alter, die keine Hormone einnehmen, extrem unterschiedlich sind (1). In der einzigen bisher veröffentlichten prospektiven, wenn auch von einer Pharmafirma geförderten Studie, in der die Frauen genau auf VTE untersucht wurden, war die Inzidenz ohne Anwendung von Hormonen bei ca. 44/100.000 FJ. Alle OK mit dem gleichen EE-Gehalt und verschiedenen Gestagenen waren mit einer ähnlichen Steigerung des VTE-Risikos assoziiert, etwa um den Faktor 2 (6). Der Inzidenz von 44 VTE/100.000 FJ kommt das Basisrisiko in der dänischen Studie (37/100.000 FJ) recht nahe. In vielen anderen Studien liegt das Risiko jedoch deutlich niedriger. Vermutlich ist der Grund hierfür, dass Venenthrombosen, die sich nur im Unterschenkel ereigneten, unterschiedlich berücksichtigt worden sind. In der jetzigen VTE-Studie von Lidegaard et al. (3) galten 72-83% der Thrombosen als gesichert (Behandlung mit Cumarinen). Bei den diagnostisch so gesicherten VTE war das RR auch für OK mit LNG als Gestagen deutlich höher als ohne diese Sicherung (RR: 3,21 vs. 2,37), was aber auch auf andere OK zutrifft.

Anders als bei VTE hatten die mit erhöhtem Risiko behafteten Gestagene Desogestrel, Gestoden, Drospirenon und Cyproteron auf das Schlaganfall- und Herzinfarkt-Risiko keinen anderen Effekt als das „gute” LNG. Dies könnte damit zusammenhängen, dass die Entstehungsmechanismen von VTE und arteriellen thrombotischen Ereignissen unterschiedlich sind. Da die Inzidenz von VTE (3, 4) und noch mehr die von arteriellen thrombotischen Ereignissen (5) so deutlich altersabhängig ist, sind alle retrospektiven Studien über die Assoziation solcher Ereignisse mit der Anwendung von OK mit Vorsicht zu bewerten. So gründliche Adjustierungen wie in den neuen Studien von Lidegaard et al. (3-5) sind bisher nur in wenigen Studien durchgeführt worden und selbst in dieser Studie war eine Adjustierung nach Körpergewicht und Raucherstatus nicht möglich. Übergewicht und Rauchen erhöhen das Thromboserisiko.

Diese Studie wird in einem Editorial von Diana B. Petitti aus den USA kommentiert (7). Sie fasst ihr Urteil zu den OK so zusammen: Not risk-free but safe enough.

Angesichts der erheblichen Steigerung des Risikos für Schlaganfälle mit dem Alter (3,4/100.000 FJ bei Teenagern versus 64/100.000 FJ bei 45-49-Jährigen) sollten Frauen über 40 Jahre nur in Ausnahmefällen EE-haltige OK einnehmen. Petitti erinnert auch zu Recht daran, dass Frauen mit arterieller Hypertonie keine OK verordnet werden sollten und dass bei deutlicher Blutdrucksteigerung nach Beginn der OK-Einnahme das OK abzusetzen ist. Frauen, die lediglich einer Kontrazeption bedürfen, sollten OK mit 20-30 µg/d EE plus LNG verschrieben werden.

Glossar

EE = Ethinylestradiol; FJ = Frauenjahre; LNG = Levonorgestrel; OK = orale Kontrazeptiva; VTE = venöse Thromboembolien

Literatur

  1. AMB 2009, 43,87. Link zur Quelle
  2. Lidegaard, Ø., et al.:BMJ 2009, 339, b2890. Link zur Quelle
  3. Lidegaard, Ø., et al.:BMJ 2011, 343, d6423. Link zur Quelle
  4. Lidegaard, Ø., et al.:BMJ 2012, 344, e2990. Link zur Quelle
  5. Lidegaard, Ø., et al.:N. Engl. J. Med. 2012, 366, 2257. Link zur Quelle
  6. Dinger, J.C., et al.:Contraception 2007, 75, 344. Link zur Quelle
  7. Petitti, D.B.: N.Engl. J. Med. 2012, 366, 2316. Link zur Quelle

Schlagworte zum Artikel:

Akutes Koronarsyndrom, Angina pectoris, Antikonzeptiva, Apoplektischer Insult, Arteriosklerose, Beinvenenthrombose, Cyproteron, Desogestrel, Drospirenon, Estrogene, Ethinylestradiol, Etonogestrel, Gestagene, Gestoden, Herzinfarkt, Hirninfarkt, Kontrazeption, Kontrazeptiva, Koronare Herzkrankheit, Levonorgestrel, Lungenembolie, Lungenembolie, Myokardinfarkt, Norelgestromin, Norethindron, Norethisteron, Norgestimat, Orale Kontrazeptiva, Östrogene, Ovulationshemmer, Pille, Schlaganfall, Thromboembolie, Thrombose, Venenthrombose, Verhütung,

 

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