AMB 2011, 45, 54b

Gehen wir in der Medizin zu leichtfertig mit der Strahlenbelastung um?

Der Zusammenhang zwischen der Exposition gegenüber hohen Dosen ionisierender Strahlen und dem Entstehen von Krebserkrankungen ist allgemein bekannt. Doch auch niedrige Strahlungsdosen scheinen das Risiko für Malignome zu erhöhen, wie an einer Kohorte von Arbeitern in Kernkraftwerken gezeigt wurde (1). Schätzungen, die auf Studien über den Zusammenhang zwischen Strahlungsexposition nach den Atombombenabwürfen über Japan und der Inzidenz von Malignomen unter den Betroffenen beruhen, gehen davon aus, dass heute bis zu 2% aller Malignome in den USA auf Strahlenexposition durch radiologische Diagnostik (vor allem Computertomographie) zurückzuführen sein könnten (2). Möglicherweise wird diese Gefahr in der Medizin immer noch unterschätzt. Bisher fehlen jedoch schlüssige Beweise aus epidemiologischen Untersuchungen.

Eine kürzlich erschienene Originalarbeit im Canadian Medical Association Journal ergab, dass die Strahlenbelastung durch kardiologische Interventionen nach Myokardinfarkt mit einem erhöhten Risiko für Krebserkrankungen in den Folgejahren assoziiert ist (3). Die Autoren identifizierten in einer administrativen Krankenhaus-Entlassungsdatenbank alle Patienten, die zwischen dem 1.4.1996 und dem 31.3.2006 wegen eines akuten Myokardinfarkts in einem Krankenhaus von Quebec, Kanada, stationär behandelt worden waren. Auf Basis der Versicherungsnummer wurden die Krankenhausdaten mit den Versicherungsdaten der Krankenversicherung von Quebec verknüpft. Die Zeit der Nachbeobachtung betrug im Mittel fünf Jahre. Die Kohorte von 82.861 Patienten wurde in fünf Gruppen stratifiziert: Patienten ohne Strahlenbelastung (n = 19.039), Patienten mit einer Strahlenbelastung von > 0 – ≤ 10 mSv (milliSievert, n = 12.331), von > 10 – ≤ 20 mSv (n = 25.310), von > 20 – ≤ 30 mSv (n = 11.091) und von > 30 mSv (n = 15.090).

Insgesamt erkrankten 12.020 (14,5%) dieser Patienten an einem malignen Tumor, wobei Tumorerkrankungen während des ersten Jahres nach der Strahlenexposition nicht berücksichtigt wurden, da hier ein Zusammenhang mit der Strahlenbelastung sehr unwahrscheinlich ist. Bei der multivariaten Vergleichsanalyse der Gruppen mit unterschiedlichen Strahlenbelastungen unter Berücksichtigung von Alter, Geschlecht und sonstiger Strahlenbelastung zeigte sich, dass das Risiko, innerhalb eines Beobachtungszeitraums von fünf Jahren nach einer durch kardiale Diagnostik oder Intervention bedingten Strahlenbelastung an Krebs zu erkranken, pro mSv um den Faktor 1,003 anstieg (95%-Konfidenzintervall: 1,002-1,004). Das entspricht einer Risikosteigerung von 4,5% z.B. nach perkutaner Koronarintervention mit einer angenommenen durchschnittlichen Strahlenbelastung von 15 mSv. Umgelegt auf die Malignominzidenz von 14,5% in der Gesamtkohorte lässt sich eine absolute Risikozunahme von 0,65% errechnen (4,5% von 14,5%), was einer Number needed to harm von 154 entspricht. Dieses Risiko muss natürlich dem Risiko gegenübergestellt werden, dem der Patient bei Unterlassung einer indizierten Koronarintervention ausgesetzt ist. In der Studie wurden ausschließlich Patienten nach akutem Myokardinfarkt untersucht, für die der Nutzen einer raschen Koronarintervention unstrittig ist. Zudem wurde in der Studie lediglich die Erkrankungsinzidenz, nicht aber die Letalität erfasst. Da es sich bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit (KHK) eher um ältere Patienten handelt, könnte es sein, dass viele von ihnen an einem kardiovaskulären Ereignis oder an anderen Ursachen gestorben sind, bevor eine durch Strahlenbelastung induzierte Krebserkrankung diagnostiziert werden konnte. Dennoch sollten uns diese Studienergebnisse veranlassen, nicht leichtfertig mit der Indikationsstellung für kardiovaskuläre Diagnostik und Interventionen und der damit verbundenen Strahlenexposition umzugehen. Wir wissen aus verschiedenen Statistiken, dass bis zu 50% der Koronarangiographien in der Erstdiagnostik der KHK einen unauffälligen Befund ergeben, und dass auch die perkutanen Interventionen bei Patienten mit stabiler Angina pectoris nur selten lebensverlängernd sind (4). Bei diesen Patienten überwiegt wahrscheinlich der schädliche Effekt der Strahlenexposition den möglichen Nutzen der Maßnahme.

Fazit: Aus einer großen retrospektiven Kohortenstudie ergibt sich ein Signal, dass die Strahlenexposition im Rahmen kardiologischer Diagnostik und Interventionen das Risiko, an Krebs zu erkranken, erhöhen kann. Dieses Risiko sollte bei der Indikationsstellung für alle strahlenintensiven Untersuchungen und Interventionen bedacht werden.

Literatur

  1. Cardis, E., et al.: BMJ2005, 331, 77. Link zur Quelle
  2. Brenner, D.J., und Hall, E.J.: N.Engl. J. Med. 2007, 357, 2277. Link zur Quelle
  3. Eisenberg, M.J., et al.: CMAJ2011, 183, 430. Link zur Quelle
  4. Trikalinos, T.A., et al.:Lancet 2009, 373, 911 Link zur Quelle . Erratum: Lancet 2009, 374,378.

 

Schlagworte zum Artikel:

Computertomographie, Herzinfarkt, Karzinome, Myokardinfarkt, PCI, Perkutane Koronarintervention, Perkutane transluminale koronare Angioplastie, PTCA, PTCA, Röntgenstrahlen, Röntgenuntersuchungen, Strahlenbelastung,

 

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