Zum Jahreswechsel schauen wir auf 2020 zurück und auf 2021 voraus. Das Jahr 2020 war außergewöhnlich, auch für den ARZNEIMITTELBRIEF, und dominiert von der SARS-CoV-2-Pandemie. Von unseren insgesamt 82 Artikeln beschäftigten sich 12, vier davon als Hauptartikel, mit diesem Virus, den Symptomen der Erkrankung und ihrer Behandlung. Der Wissenszuwachs war rasant, oft lagen bei Drucklegung einer Ausgabe bereits neue Informationen vor, die, falls bekannt, zu einem Umschreiben der Artikel hätten führen können. Das wird wahrscheinlich auch in diesem Jahr so sein.
Viele dieser Informationen erschienen auf Preprint-Servern, manchmal nur als Pressemitteilung und sehr häufig ohne „peer review“. Diese ungefilterten Informationen waren mitunter fehlerhaft und vieles wurde fehl- und überinterpretiert. So führten anfängliche Überlegungen zu einem möglichen höheren Infektions- und Erkrankungsrisiko durch ACE-Hemmer, AT-II-Rezeptor-Blocker und Ibuprofen zu einer starken Verunsicherung und wahrscheinlich zu ungerechtfertigtem Absetzen dieser Arzneimittel. Auch die Notfallzulassung von Chloroquin und Hydroxychloroquin in den USA basierte auf vorläufigen Daten und führte auch hierzulande dazu, dass diese Wirkstoffe vorübergehend nicht lieferbar waren. Im Mai haben wir daher gefordert, dass wissenschaftliche Standards in klinischen Studien nicht dem Zeitdruck geopfert werden dürfen. Diese Forderung haben wir in unserem ersten Artikel zu den genetischen Impfstoffen im November erneuert. Der Druck auf die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) war und ist groß. Der ARZNEIMITTELBRIEF und die Bevölkerung erwarten jedoch zu Recht, dass jetzt und später alle Daten – trotz politischem Druck – sorgsam geprüft und dabei neben der Wirksamkeit auch Fragen zur Sicherheit der Impfstoffe nicht vernachlässigt werden.
Einige Leser(innen) haben unsere mahnenden Forderungen an die Entwicklung und Prüfung neuer Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 als Generalkritik an diesen neuartigen Impfstoffen empfunden. Dieser Eindruck ist falsch, denn aufmerksame Leser(innen) des ARZNEIMTTELBRIEFs wissen, dass wir uns stets für gut begründete Impfungen und gegen irrationale Bewertungen sowie Kampagnen einsetzen.
Neben COVID-19 gab es im zurückliegenden Jahr noch weitere wichtige Themen. So haben wir im September die Frage bearbeitet, ob die Ergebnisse großer internationaler Arzneimittelstudien ohne weiteres auf Patienten in Mitteleuropa übertragen werden können. Die vielfältigen Unterschiede zwischen den Ethnien und Gesundheitssystemen können bei den jeweils untersuchten Endpunkten zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen und nicht ohne weiteres herausgerechnet werden. Die Autoren und Gutachter solcher Studien sollten künftig mehr auf regionale Effekte bzw. Verzerrungen achten. Kompetente Analysen zu diesem Thema wurden uns übrigens unaufgefordert von einem unserer Leser vorgelegt und von uns redaktionell bearbeitet. Von solchen Initiativen und Diskussionen profitieren wir. Sehr gerne nehmen wir auch in 2021 Anregungen aus unserer Leserschaft auf.
Weitere Hauptartikel kamen aus der Augenheilkunde (Intravitreale Therapie der neovaskulären altersabhängigen Makuladegeneration mit VEGF-Inhibitoren), der Hausarztmedizin (Primäre Behandlung chronischer Schlafstörungen bei Erwachsenen: Verhaltenstherapie versus Schlafmittel), der Psychiatrie (Antidepressiva und Antipsychotika: Auswirkungen auf Körpergewicht und Metabolismus) und der Hämatologie (Ibrutinib: neue Ergebnisse zu kardiovaskulären Nebenwirkungen unter „Real-World“-Bedingungen). Drei Hauptartikel befassten sich mit kardiologischen Themen. Besonders erwähnenswert ist der Bericht über die ISCHEMIA-Studie im Juli. In diese große randomisierte Studie (initial invasive Strategie vs. initial konservative Strategie) wurden über 5.000 Patienten mit stabiler koronarer Herzkrankheit und größerem myokardialem Ischämieareal eingeschlossen. Es konnte nachgewiesen werden, dass eine primär konservative und abwartende Behandlungsstrategie einem invasiven Vorgehen ebenbürtig ist. Es wird also zukünftig schwerer, die besonders in Deutschland hohen Zahlen intrakoronarer Eingriffe inhaltlich zu rechtfertigen. Der Herausgeber des European Heart Journal, Thomas Lüscher, räumte im Schweizer Fernsehen systemische Fehlanreize in der Kardiologie ein. Die Überversorgung mit Herzkatheteruntersuchungen ließe sich „nur politisch ändern, wenn die Verrechnung nach Qualität und nicht mehr nach Quantität erfolgen würde.“ Diesem Vorschlag schließen wir uns an. Dies sollte jedoch für die gesamte klinische Medizin gelten.
Das vor uns liegende Jahr wird aus der Sicht einer rationalen Arzneimitteltherapie und der Bereitstellung unabhängiger, evidenzbasierter Informationen bzw. Empfehlungen sehr bedeutsam. Die Impfung vieler Millionen Gesunder mit unterschiedlichen SARS-CoV-2-Impfstoffen wird vermutlich dazu führen, dass wir häufig über tatsächliche, übertriebene und gefälschte Berichte zu Impfnebenwirkungen lesen werden. Manche werden weiterhin versuchen, mit diesen Desinformationen die Verunsicherung und Ängste in unseren freien und pluralistischen Gesellschaften zu schüren.
Es ist uns ein wichtiges Anliegen, durch Artikel über aktuelle neue Ergebnisse zu den Impfstoffen die kommende Impfkampagne kritisch zu begleiten und ggf. zu kommentieren. Sie muss gut überwacht und mit aufkommenden Problemen transparent umgegangen werden. Unsere Aufgabe sehen wir darin, Berichte über Nutzen und Risiken einer solch umfänglichen Präventionsmaßnahme differenziert zu bewerten. DER ARZNEIMITTELBRIEF macht dies seit mehr als 50 Jahren aus der Sicht klinisch tätiger Ärztinnen und Ärzte letztlich im Interesse einer rationalen Behandlung von Patienten. Wir spüren die Verantwortung, die aus Ihrem Vertrauen in unsere Unabhängigkeit und Urteilskraft erwächst, und wollen dieser wechselseitigen Beziehung auch 2021 gerecht werden.