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AMB 2011, 45, 05

Verbessert die Thrombolyse beim ischämischen zerebralen Insult auch bei Patienten über 80 Jahre die Prognose?

Anders als in Nordamerika empfiehlt die EMA für Europa bei über 80-Jährigen mit ischämischem Insult keine i.v. Thrombolyse (1). Die Gründe hierfür sind die Befürchtung häufigerer Einblutungen in den infarzierten Bereich und die Tatsache, dass Patienten > 80 Jahre aus prospektiven Studien zu dieser Therapie bisher oft ausgeschlossen wurden, so dass die Datenlage unzureichend war. Die i.v. Thrombolyse beim Schlaganfall stellt hohe logistische und materielle Anforderungen. Sie soll möglichst innerhalb der ersten drei Stunden nach Auftreten der Symptome begonnen werden, was voraussetzt, dass sofort ein Arzt herbeigerufen und/oder der Patient schnell in ein Krankenhaus transportiert wird, möglichst mit einer Stroke Unit. In diesem Zeitfenster muss auch noch ein CCT oder ein MRT zum Ausschluss einer Hirnblutung als Ursache des Insults durchgeführt werden. Deshalb erhalten – auch in Ländern mit fortschrittlichem Gesundheitssystem – bisher kaum mehr als 2% aller in Frage kommenden Patienten eine i.v. Thrombolyse (2).

N.K. Mishra et al. (3), Autoren aus sechs europäischen Ländern, legten jetzt die Ergebnisse der Auswertung zweier großer Register vor: International Stroke Thrombolysis Registry (SITS-ISTR) und Virtual International Stroke Trials Archive (VISTA). SITS-ISTR umfasste 23.334 Patienten, die zwischen 2002 und 2009 eine i.v. Thrombolyse (überwiegend mit Alteplase = Actilyse®) erhielten. Aus VISTA wurden 6166 Patienten evaluiert, darunter viele > 80 Jahre, die zwischen 1998 und 2007 keine i.v. Thrombolyse, aber „Neuroprotektiva” oder Plazebo erhalten hatten, wobei die „Neuroprotektiva” sich im Ergebnis nicht von Plazebo unterschieden. Eine optimale supportive Therapie sollten alle Patienten bekommen. Unter den insgesamt 29.500 Patienten waren 3.472 > 80 Jahre alt (im Mittel 84,6 Jahre).

Ziel der Vergleichsstudie war die Ermittlung des medianen Symptom-Index (Median stroke scale score) 90 Tage nach Eintritt des Insults in Abhängigkeit von der Art der Therapie und dem Alter der Patienten. Vor Beginn der Behandlung war der Symptom-Index mit 12 bei Patienten mit und ohne i.v. Thrombolyse gleich. Nach 90 Tagen war das Gesamtergebnis bei Thrombolyse-Patienten mit einer Odds ratio von 1,6 (95%-Konfidenzintervall = CI: 1,5-1,7) deutlich besser als bei den Kontrollen, wobei eine Odds ratio > 1 eine Abnahme des Symptom-Indexes bedeutet. Bei einem Alter < 80 bzw. > 80 Jahre war die Odds ratio fast gleichermaßen > 1 (1,6; CI: 1,5-1,7 bzw. 1,4; CI: 1,3-1,6). In beiden Altersgruppen war p < 0,001. Auch bei den jüngeren Patienten waren in allen 10-Jahresgruppen > 30 Jahre die Ergebnisse nach i.v. Thrombolyse günstiger als bei den Kontrollen, und im Alter von 41-90 Jahre war der Therapievorteil nach Thrombolyse signifikant.

Erwartungsgemäß war die Prognose nach ischämischem Insult bei sehr alten Patienten ungünstiger als bei jüngeren, aber der Vorteil nach Thrombolyse war weitgehend unabhängig vom Alter. Die Autoren schließen aus ihren Befunden, dass das Alter allein keine Kontraindikation für Thrombolyse nach akutem ischämischem Insult sein sollte. Diese Schlussfolgerung wird von dem Autor eines Kommentars, L. Derex aus Lyon (1), unterstützt. Allerdings hält er es für möglich, dass in den Registern die Auswahl sehr alter Patienten für eine Thrombolysetherapie mit „Selection bias” erfolgte. Er erhofft sich jedoch von noch nicht abgeschlossenen randomisierten prospektiven Therapiestudien, in die auch Patienten > 80 Jahre eingeschlossen werden, weitere Klärung. Nur solche Studien können zeigen, ob auch sehr alte Menschen trotz ihrer häufigen Komorbidität von der nicht risikolosen i.v. Thrombolyse profitieren. Wichtiger noch wäre die häufigere Anwendung der i.v. Thrombolyse bei geeigneten jüngeren Patienten mit ischämischem zerebralem Insult.

Fazit: Die Auswertung zweier großer Register zur Therapie des ischämischen zerebralen Insults ergab, dass auch Patienten im Alter > 80 Jahre von einer i.v. Thrombolyse profitieren können. Da in solchen Registern „Selection bias” nicht ausgeschlossen werden kann, werden die Ergebnisse in randomisierten prospektiven Studien überprüft. Patienten > 80 Jahre müssen jedoch nicht grundsätzlich von der i.v. Thrombolysetherapie ausgeschlosssen werden.

Literatur

  1. Derex, L.: BMJ 2010, 341,c5891. Link zur Quelle
  2. Hacke, W., et al.(ECASS III = European Cooperative Acute StrokeStudy III): N. Engl. J. Med. 2008, 359, 1317. Link zur Quelle
  3. Mishra, N.K., et al. (SITS-ISTR = Safe Implementationof Treatments in Stroke-International Stroke ThrombolysisRegistry und VISTA = Virtual International Stroke TrialsArchive): BMJ 2010, 341, c6046. Link zur Quelle

 

Schlagworte zum Artikel:

Apoplektischer Insult, ECASS-Studie, Hirninfarkt, Lysetherapie, Schlaganfall, SITS-ISTR-Register, Thrombolysetherapie, VISTA-Studie,

 

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