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Humanitäre und utilitaristische Handlungsoptionen des Staates angesichts der SARS-CoV-2-Pandemie in Deutschland und Überlegungen zu besseren Strategien für kommende Pandemien

Durch die besondere Vulnerabilität älterer, multimorbider und immunsupprimierter Menschen füllten sich zu Beginn der Pandemie in Italien und Spanien die Krankenhäuser und Intensivstationen sehr schnell mit schwer erkrankten COVID-19-Patienten. Die Bilder von überfüllten Krankenhäusern, dem erschöpften und verzweifelten Krankenhauspersonal und der Abtransport vieler Särge durch das italienische Militär haben sich eingeprägt. Viele der nachfolgenden politischen Entscheidungen wurden, auch in Deutschland und Österreich, dadurch stark beeinflusst.

Wir wissen heute, dass COVID-19 bei gesunden jüngeren Menschen nur sehr selten schwer verläuft. Dennoch hat die Infektion – auch durch engen Kontakt zwischen Jung und Alt – zur raschen Ausbreitung und schweren Erkrankungen alter Menschen beigetragen. Unsere Gesundheitssysteme hat die Pandemie völlig unvorbereitet getroffen, obwohl seit Jahren vor einer solchen Situation gewarnt wurde und es längst entsprechende Krisenszenarien gab. Vieles musste also improvisiert werden, und landesweit wurden sehr eingreifende Maßnahmen mit allgemeiner Kontaktbeschränkung und mit zunehmender Dauer gravierenden Auswirkungen auf Gemeinwesen und Volkswirtschaft verordnet. Das Hauptargument hierfür war in erster Linie, die Krankenhäuser und speziell die Intensivstationen mit ihren Beatmungskapazitäten nicht zu überlasten (wie in Italien und Spanien). Ein weiteres Argument war, dass ältere und chronisch kranke Menschen wegen der schwereren Verläufe vor einer Ansteckung (oft durch Jüngere) beschützt werden müssen. Die allgemeinen Lock-Down-Maßnahmen wurden, gestützt durch Empfehlungen von Epidemiologen und Virologen, eingeleitet, auch wenn ihre öffentlichen Stellungnahmen keineswegs einheitlich und teils durch Rivalität bestimmt waren. Verlässliche Evidenz für oder gegen einzelne Maßnahmen gab es zu Beginn kaum oder gar nicht, und auch bis heute bestehen große Defizite bei der systematischen Generierung von Daten und ihrer Bewertung.

Inzwischen hat sich gezeigt, dass die befürchteten Katastrophenszenarien in Deutschland bisher erfreulicherweise nicht eingetreten sind. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die verhängten Kontaktbeschränkungen, besonders das Verbot von Großveranstaltungen sowie Restaurant- und Barbesuchen, zu dem in Deutschland bisher eher milden Verlauf der Pandemie beigetragen haben.

Staatliche Autoritäten (Bundes- und Landesregierungen), aber auch Einzelpersonen, können in derartigen Gefahrensituationen vorzugsweise nach humanistisch-individualisierten und/oder nach utilitaristischen Prinzipien handeln. Der humanistische Ansatz geht davon aus, dass jeder Mensch, ob jung oder alt, bisher gesund oder krank, Anspruch auf gleiche Hilfe und Schutz durch die Gemeinschaft hat. Der utilitaristische Ansatz, zurückgehend auf den Briten Jeremy Bentham (1748-1832), stellt dagegen mehr das Wohl und das Glück der Gemeinschaft in das Zentrum des staatlichen Handelns. Die besonders in Großbritannien in der Neuzeit formulierte und weiterhin stark beachtete utilitaristische Haltung geht auf antike Traditionen zurück.

Der britische Moralphilosoph Roger Crisp (Oxford) hält die humanistische Haltung dann für angemessen, wenn das potenzielle „Opfer“ bekannt ist (1). Wenn es dagegen z.B. um Verkehrstote gehe, die niemand im Voraus persönlich kenne, sei die Gesellschaft offenbar bereit, im Interesse des Individualverkehrs und der Wirtschaft erhebliche Opfer in Kauf zu nehmen, zumal ein Teil der Opfer auch eine Mitschuld an den Unfällen habe.

Utilitaristische Überlegungen zu COVID-19 werden von J. Appleby (Nuffield Trust, London) diskutiert. Er führt im BMJ (2) aus, dass im März 2020 neben den an oder mit COVID-19-Verstorbenen in Großbritannien insgesamt mehr Menschen gestorben seien, als in einem vergleichbaren Zeitraum zuvor und vermutet, dass vielleicht ein Teil dieser Todesfälle hätte verhindert werden können, wenn der überlastete NHS sich nicht vor allem um schwerkranke COVID-19-Patienten hätte kümmern müssen, viele davon mit sehr kurzer Lebenserwartung. Wegen der hohen Fallzahlen und schweren Verläufe war in Großbritannien die Priorisierung von Schwerpunktstationen für COVID-19-Patienten unumgänglich.

Die Auswirkungen auf nicht an COVID-19-Erkrankte durch verzögerte Diagnostik und Therapien sind noch nicht einzuschätzen, ebenso wie die indirekten gesundheitlichen Schäden durch Arbeitslosigkeit, Schulausfall und Konkurse. Klar ist dagegen, dass die Krankenhäuser durch Umstrukturierungen zur priorisierten Aufnahme von COVID-19-Patienten gegenüber anderen Kranken erhebliche finanzielle Einbußen erlitten haben (3).

In der DMW vom 1. April 2020 wurden von J. Hübner et al. Rechtsfragen der Ressourcenzuteilung in der SARS-CoV-2-Pandemie erörtert (4). Die Rechtsmediziner kommen zu dem Schluss, dass die deutschen Gesetze den Ärztinnen und Ärzten bei ihren Entscheidungen nur eine begrenzte Freiheit zugestehen, neben den rein medizinischen Algorithmen auch utilitaristische Erwägungen zu berücksichtigen. Unserem von humanistisch-individualisierten Regeln dominierten Gesundheitssystem sind utilitaristische Gedanken jedoch nicht fremd. So orientiert sich die Bezahlung von Therapien durch Versicherungen u.a. an der Größe „QALY“ (Quality Adjusted Life Years = Maß für die Bewertung eines Lebensjahrs in Relation zur Gesundheit; 5). Ein QALY von 1 bedeutet ein Jahr in voller Gesundheit, ein QALY von 0 entspricht dem Tod. Für eine gesundheitsökonomische Evaluierung wird das Behandlungsergebnis auf diese Weise in eine messbare Zahl überführt, mit deren Hilfe Kosten-Nutzen-Analysen durchgeführt werden können. Teure Therapien mit geringem Zugewinn an QALY haben weniger Aussichten, von der Gemeinschaft bezahlt zu werden als solche mit einem großen Zugewinn.

Unter Berücksichtigung der individuellen Situation von Patienten, ihrer Prognose und ihres dokumentierten oder von Vertrauenspersonen (Vorsorgevollmacht) bekundeten Willens verliert der scheinbare Gegensatz von humanistischen und utilitaristischen Erwägungen an Schärfe (7). Generell sollte älteren und multimorbiden Menschen, speziell auch im Hinblick auf die Bedrohung durch COVID-19, empfohlen werden, eine Patientenverfügung zu verfassen. Dabei sollten sie sich eher von Ärzten als von Juristen beraten lassen. Da die Lebensqualität nach Überleben von Langzeitbeatmung und Reanimationsmaßnahmen meist deutlich schlechter ist als zuvor, sollten es sich gesundheitlich bereits stark eingeschränkte alte Menschen gut überlegen, inwieweit sie im Notfall intensivmedizinische Maßnahmen zulassen wollen.

Für ambulant tätige Ärzte wurde aus Anlass der COVID-19-Pandemie von verschiedenen Fachgesellschaften im April 2020 ein Leitfaden verabschiedet, der Hinweise gibt zur Therapiezielklärung, zur Einschätzung der Prognose und zur Ermittlung des Patientenwillens. Eine Priorisierung wegen der Knappheit intensivmedizinischer Ressourcen wurde im ambulanten Bereich bewusst vermieden, da dies Aufgabe der stationären Intensivmedizin ist (8). Darüber hinaus können sich Patienten auch von ihrem Hausarzt beraten lassen und eine „Ärztliche Notfallanordnung“ (ÄNo) unterzeichnen, die als „wesentlich schärferes Schwert“ als eine übliche Patientenverfügung bewertet wird (9). Die ÄNo enthält nach ausführlicher Beratung im Wesentlichen die Wünsche des Patienten zu drei Punkten, die per Ankreuzen dokumentiert werden:

A. Lebensverlängernde Maßnahmen ohne Einschränkung;

B. Lebensverlängernde Maßnahmen mit Einschränkungen (u.a. keine Wiederbelebung, keine invasive Beatmung, keine Intensivstation);

C. Keine lebensverlängernden Maßnahmen, nur palliative Behandlung.

Seit Ausbruch der Pandemie sind bisher (Stichtag 3.9.2020) in Deutschland insgesamt 246.796 Personen als positiv getestet worden bzw. erkrankt und 9.385 mit bzw. an der Infektion gestorben. Die Zahl der „Genesenen“ beträgt 219.107. Im Unterschied zu den Monaten Januar bis März 2020 lag im April 2020 die Zahl der Gestorbenen mit etwa 83.700 gemeldeten Fällen deutlich über dem Durchschnitt der Vorjahre (+ 10%) Im Mai (75.600), Juni (71.700) und Juli (72.700) liegen die Zahlen im Bereich der Durchschnitte der Vorjahre (10).

Zunächst war ab Ende Mai 2020 die Zahl der erkannten Neuinfektionen deutlich rückläufig. Durch nachlassende Disziplin beim Tragen von Mund-Nasen-Masken und Abstandhalten sowie viele Reiserückkehrer seit Lockerung der Reisebeschränkungen ist die Zahl wieder gestiegen – allerdings auch bei deutlich größerer Zahl von Tests. Die Zahl der mit oder an COVID-19 Gestorbenen ist aber nur gering gestiegen. Das liegt an derzeit meist inapparenten oder leichten Verläufen der Infektion bei den jetzt fast ausschließlich betroffenen jüngeren Menschen. Da die besonders gefährdeten Personen inzwischen offenbar besser geschützt werden, sind Bund und Länder in letzter Zeit pragmatischer vorgegangen bei der Verfolgung des Ziels, die Zahl der Infektionen gering zuhalten und eine „Zweite Welle“ zu verhindern.

Retrospektiv und aktuell sind Kontaktbeschränkungen, Abstandhalten in der Öffentlichkeit und Mund-Nasen-Masken die wirksamsten Maßnahmen zur Eindämmung und Verlangsamung der Epidemie. Das Tragen eines Mund-Nasenschutzes ist nach Einschätzung der Biochemikerin und ehemaligem Mitglied des österreichischen Ethikrats, Renée Schroeder, keine Frage der Weltanschauung, sondern eine der Intelligenz (6). Hätte man das bei Beginn der Pandemie gewusst und beherzigt, wären preiswerte Masken und Schutzkleidung in medizinischen Einrichtungen ausreichend vorhanden gewesen, dann hätte man im gewerblich-beruflichen Bereich viele drastische Maßnahmen mit negativen wirtschaftlichen Folgen wahrscheinlich vermeiden können. Das ist eine wichtige Lehre für künftige Epi-/Pandemien. Sie werden nicht ausbleiben. Der vom deutschen Grundgesetz geforderte Schutz der Menschenwürde und des Lebens ohne Ansehen der Person ist nach unserer Einschätzung mit utilitaristischen Überlegungen durchaus vereinbar. Bei optimalem Schutz der durch SARS-CoV-2 am meisten bedrohten Bürger muss das private und wirtschaftliche Leben der Gesamtbevölkerung nur so weit eingeschränkt werden, wie es zum Zweck dieser Schutzmaßnahmen und zur Verminderung einer weiteren Ausbreitung der Infektion erforderlich ist.

Eine lesenswerte umfassende Darstellung gesellschaftspolitischer Aspekte der SARS-CoV-2-Pandemie findet sich in 6 Artikeln der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (11).

Literatur

  1. „Der Spiegel“: 28.3.2020, S. 90.
  2. Appleby, J.: BMJ 2020, 369, m1496. Link zur Quelle
  3. Kiesel, R.: „Der Tagesspiegel“, 24.8.2020. Link zur Quelle
  4. Hübner, J., et al.: Dtsch. Med. Wochenschr. 2020, 145, 687. Link zur Quelle
  5. Meißner, M.: Dtsch. Arztebl. 2010, 107, A-546. Link zur Quelle
  6. https://www.sn.at/salzburg/chronik/ eine-maske-ist-ein-iq-test-kein- politisches-statement-91989073 Link zur Quelle
  7. „Der Spiegel“ 2.5.2020, S. 108. Interview mit Dr. Ines Schröder, LMU München.
  8. https://www.dgpalliativmedizin.de/images/ Ambulante_patientenzentrierte_Vorausplanung_fuer _den_Notfall_LEITFADEN_20200409_final.pdf Link zur Quelle
  9. https://www.tagesspiegel.de/berlin/ aerztliche-notfallanordnung-so-koennen- patienten-ihre-covid-19-behandlung- vorher-regeln/25750590.html Link zur Quelle
  10. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/ Bevoelkerung/Sterbefaelle-Lebenserwartung/ sterbefallzahlen.html Link zur Quelle
  11. Corona-Krise (6 Aufsätze): APuZ, 70. Jahrgang, 24.8.2020. Link zur Quelle