Der Chef der Arzneimittelkommission, Wolf-Dieter Ludwig, über unseriöse Werbung der Pharmafirmen, den Vorrang für Profit und die Interessenkonflikte der Ärzte
Wer in das Büro von Wolf-Dieter Ludwig will, geht vorbei an vielen Patienten, die Schlimmes durchmachen: Krebs. Ludwig ist Chefarzt der Klinik für Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie im Helios-Klinikum Berlin-Buch. Gleichzeitig schaut er als Vorsitzen der Arzneimittelkommission der Ärzteschaft der Pharmaindustrie genau auf die Finger. Die Unternehmen, so sein Vorwurf, sorgen sich oft mehr um ihre Gewinne als um die Heilung von Menschen.
Wolf-Dieter Ludwig, 62, studierte Medizin unter anderem in Louvain (Belgien), Frankfurt am Main, Innsbruck und Berlin. Promotion 1982 an der FU Berlin. Anschließend Weiterbildung zum Facharzt für innere Medizin. 1991 Habilitation und 1994 Berufung auf die Professur für Hämatologie,Onkologie und Angewandte Molekularbiologie am Universitätsklinikum Rudolf Virchow. Seit 2007 Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Ärzteschaft. Die Kommission informiert die Ärzte über eine rationale Arzneimitteltherapie und die Sicherheit von Medikamenten.
Herr Professor Ludwig, wann hat Sie die Pharmaindustrie zuletzt wieder einmal richtig erbost?
Wir wissen aus vielen Beispielen, dass Pharmaunternehmen Publikationen zu ihren Arzneimitteln schönen oder Ergebnisse selektiv veröffentlichen. Günstige Ergebnisse zur Wirksamkeit werden herausgestellt, Nebenwirkungen verheimlicht. Jetzt kam anhand firmeninterner Unterlagen in den USA heraus, dass Boehringer Ingelheim beim Medikament Pradaxa zur Verhütung von Schlaganfällen, das mit schweren, teilweise tödlich verlaufenden Blutungen in Verbindung gebracht wird, wichtige Ergebnisse verschwiegen hat.
Wie wurde getrickst?
Geworben hat der Hersteller damit, dass mit Pradaxa anders als bei bewährten Wirkstoffen zur Hemmung der Blutgerinnung eine kontinuierliche Überwachung der Patienten nicht mehr notwendig ist. In internen Analysen kamen Mitarbeiter des Unternehmens aber zu dem Schluss, dass das Blutungsrisiko auch bei Pradaxa durch regelmäßige Laborkontrollen gesenkt werden kann. Damit wäre aber der beworbene Wettbewerbsvorteil dahin gewesen. Aus Marketinggründen unterschlug Boehringer daher wichtige Daten. Das zeigt wieder einmal, wie kommerzielle Interessen über das Interesse der Patienten und Ärzte gestellt wird.
Haben die Marketing-Aktivitäten der Industrie zugenommen?
Eindeutig ja. Sie werden vor allem immer unseriöser. Als Onkologe erhalte ich pro Monat unentgeltlich bis zu zehn Zeitschriften, in denen finanziell unterstützt von der Pharmaindustrie sogenannte Experten neue Krebsmedikamente anhand entsprechender Studien beurteilen. Diese Veröffentlichungen dienen eher dem Marketing als der Vermittlung unabhängiger, kritischer Informationen zu neuen Wirkstoffen.
Hat die Industrie so etwas nötig?
Die Innovationskraft der Pharmaunternehmen hat erheblich nachgelassen. Die Entwicklung von Arzneimitteln, die einen echten therapeutischen Fortschritt bringen, ist ins Stocken gekommen. Nur etwa ein bis zwei von zehn neuen Medikamenten wirken deutlich besser oder sind sicherer als bereits vorhandene Arzneimittel. Diese Innovationskrise bei der Pharmaindustrie führt dazu, dass neue Arzneimittel ohne belegten Zusatznutzen von der Industrie immer stärker beworben werden.
Verständlich. Die Pharmafirmen wollen ja dennoch etwas verdienen.
Das tun sie. Denn obwohl sie für die Patienten keinen oder nur einen geringen Nutzen haben, kosten die Medikamente mitunter deutlich mehr als die schon auf dem Markt befindlichen Arzneimittel. Im Übrigen zeigt das massive Marketing, dass die Hersteller selbst nicht an den therapeutischen Fortschritt durch viele ihrer Produkte glauben. Bei wirklich innovativen Produkten wäre diese massive Werbung, für die Pharmafirmen inzwischen deutlich mehr Geld ausgeben als für Forschung und Entwicklung neuer Wirkstoffe, gar nicht nötig.
Die Entwicklung von Medikamenten ist teuer. Muss man der Industrie da nicht Zugeständnisse machen?
Grundsätzlich stimmt das. Nur etwa fünf Prozent aller Arzneimittel aus der präklinischen Prüfung, beispielsweise für Krebserkrankungen, werden am Ende tatsächlich für die Behandlung am Menschen zugelassen. Dass diese Rate so gering ist, liegt aber vor allem an der Industrie selbst. Sie investiert zu wenig in die Grundlagenforschung. Daraus resultiert sehr häufig ein Scheitern der Wirkstoffe vor der Zulassung – infolge unzureichender Wirksamkeit oder Sicherheit.
Die Gewinne werden also mitnichten zur Entwicklung echter Innovationen verwendet?
Bleiben wir bei der Onkologie, einem Bereich, für den derzeit etwa ein Drittel aller neuen Arzneimittel zugelassen wird: Die Industrie konzentriert sich auf Arzneimittel, die relativ einfach und kostengünstig entwickelt werden können. Die Herstellung von Wirkstoffen, die den Krebs an der Wurzel packen und damit ein echter Fortschritt wären, wird dagegen aus Kostengründen viel zu selten angegangen – auch weil deren Entwicklung deutlich mehr Zeit und Geld kostet.
Aber ein Durchbruch zum Beispiel bei Krebs wäre doch eine Lizenz zum Gelddrucken für ein Unternehmen?
Sicher. Aber dafür braucht es einen langen Atem, Risikobereitschaft und qualitativ hochwertige klinische Studien. Statt für Patienten tatsächlich neue, besser wirksame Arzneimittel zu entwickeln, verfolgen Pharmaunternehmen leider zu häufig das Ziel der Profitabilität. Allein in der Onkologie befinden sich rund 800 neue Wirkstoffe in der Forschungs-Pipeline. Wir wissen aber schon jetzt, dass viele, die davon auf den Markt kommen werden, gar keinen oder nur einen geringen Fortschritt bieten werden.
Das muss Sie doch als Arzt verzweifeln lassen?
Für Verzweiflung besteht für mich kein Grund. Als Onkologe wünsche ich mir aber sehr, dass wir in Zukunft weniger auf die Werbung der Pharmaindustrie vertrauen. Stattdessen brauchen wir aussagekräftige Daten aus klinischen Studien, die unabhängig von kommerziellen Interessen geplant und durchgeführt wurden.
So pharmakritisch wie Sie ist die Mehrheit Ihrer Kollegen offenbar nicht. Denn beim Verkauf neuer Medikamente sind die Pharmahersteller regelmäßig sehr erfolgreich.
Leider denken immer noch viele meiner Kollegen, dass bei Arzneimitteln neu auch gleichzeitig besser bedeutet. Das ist jedoch meistens nicht der Fall. Die Kollegen würden das auch erfahren, wenn sie statt der von Pharmafirmen gesponserten Magazine häufiger unabhängige Arzneimittel-Informationsblätter lesen würden. Es ist allerdings nicht ganz leicht, sich dem Einfluss der Industrie zu entziehen. Pharmamarketing und der Schutz davor ist nichts, was man im Studium lernt. Das muss sich dringend ändern.
Wie beeinflusst die Industrie das Verschreibungsverhalten der Ärzte?
Sie nutzt oft Patientenorganisationen, um neue Arzneien in den Markt zu drücken. Glücklicherweise gibt es immer mehr Selbsthilfegruppen, die versuchen, unabhängig zu sein und Patienten kritisch zu informieren. Sehr problematisch sind außerdem die vielen Fortbildungsveranstaltungen, die Ärzte regelmäßig besuchen müssen. Wir gehen davon aus, dass 70 bis 80 Prozent dieser Veranstaltungen von der Industrie gesponsert werden.
Wie sieht das konkret aus?
Die Veranstaltungen sind umsonst, die mitunter sehr gute Bewirtung auch. Und dann treten hier und auf Satellitensymposien großer Kongresse häufig Kollegen auf, die enge Kontakte zur Industrie haben und in ihrenVorträgen kein objektives Bild vom Nutzen und Schaden neuer Medikamente vermitteln.
Warum gibt es keine neutrale Fortbildung?
Dies muss durch die Berufs- und Fortbildungsordnungen der Landesärztekammern besser geregelt werden. Mit der Ärztekammer Berlin veranstaltet die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft beispielsweise seit zwei Jahren einen unabhängigen Fortbildungskongress. Er ist stets restlos ausgebucht. Gerade jüngere Ärzte sind sich der Probleme bei Industrie-gesponserten Veranstaltungen zunehmend bewusst.
Wo gibt es noch Möglichkeiten der Beeinflussung?
Die Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften sind leider auch heute noch ein Einfallstorfür die Industrie. Als ich mir zum Beispiel die Liste der Ärzte mit Interessenkonflikten bei der aktuellen Leitlinie zur Multiplen Sklerose angeschaut habe, war ich wirklich erschrocken über Zahl und Umfang der Industriekontakte. Ich erwarte zumindest von dem federführenden Autor einer Leitlinie und der Mehrheit der beteiligten Experten, dass sie von der Industrie unabhängig sind.
Ärzte behaupten, sie seien trotz einer Zusammenarbeit mit der Industrie durch Beratungen,Vorträge oder klinische Studien weiter objektiv.
Leider gibt es immer noch zahlreiche Ärzte, die sich, aber nicht ihre Kollegen, für immun gegenüber der Beeinflussung durch die Industrie halten.Doch inzwischen wissen wir, dass Entscheidungsprozesse auch unbewusst beeinflusst werden. Es reicht also nicht, nur seine Interessenkonflikte anzugeben. Es muss darum gehen, mit diesen richtig umzugehen und generell die Berührungspunkte zu reduzieren.
Das ist doch illusorisch, denn klinische Studien der Industrie unter Mithilfe der Ärzte sind notwendig für die Zulassung eines Medikaments.
Eine Zusammenarbeit von Ärzten und Pharmaindustrie bei der Entwicklung und klinischen Forschung zu neuen Arzneimitteln ist notwendig und auch grundsätzlich im Interesse einer guten Gesundheitsversorgung. Insofern wird es immer Interessenkonflikte geben. Wer als Arzt enge, finanzielle oder intellektuelle Beziehungen zur Industrie hat, kann auf seinem Fachgebiet natürlich trotzdem seine Expertise einbringen. Aber er darf beispielsweise nicht bei Leitlinien an maßgeblichen Entscheidungen beteiligt sein, die am Ende das Verschreibungsverhalten der Ärzte beeinflussen sollen.
Ab 2016 will die Pharmaindustrie alle Zahlungen an Ärzte offenlegen. Reicht diese Selbstverpflichtung?
Ich bin da eher skeptisch. Die Ärzte müssen nämlich der öffentlich zugänglichen Dokumentation aller finanziellen Zuwendungen und Sachleistungen zustimmen. Und da bin ich mir nicht sicher, wie sich viele Kollegen verhalten werden. Wir wissen schon heute, dass selbst die Deklaration von Interessenkonflikten häufig sehr lückenhaft ist. Es könnte also sein, dass letztlich doch eine gesetzliche Regelung nach dem Vorbild der USA nötig ist. Dort gilt seit diesem Jahr der „Sunshine-Act“, nach dem alle Zuwendungen veröffentlicht werden müssen, egal, ob der Arzt zustimmt. Jetzt wissen wir, dass einzelne Mediziner in den USA sechsstellige Summen von der Industrie für Vorträge oder Beratungen bekommen.
Ist die Ärzteschaft also doch korrupt?
Nein, bis auf einige wenige schwarze Schafe sicher nicht. Korrupt ist etwa, wer für Geld bestimmte Medikamente verschreibt. Das ist etwas ganz anderes als eine wissenschaftliche Kooperation mit Pharmaunternehmen, auch gegen Geld. Sie kann durchaus für die Patienten sinnvoll sein, wenn dadurch etwa bessere Medikamente entwickelt werden. Jedem Arzt muss aber klar sein, dass sein Urteilsvermögen durch die Zusammenarbeit verzerrt werden kann. Deshalb ist Transparenz so wichtig. Aber generell ist klar: Der Grat, auf dem wir uns hier bewegen, ist sehr schmal.
Das Gespräch führte Timot Szent-Ivanyi.
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